Oktober 2010
Sehet, welch ein Mensch
Menschenbilder von Ismail Çoban
Ismail Çoban, der Maler und Zeichner, entzieht sich als Grenzgänger zwischen zwei Kulturen allen stilistischen Zuordnungen und Markttendenzen. Das macht ihn unverwechselbar, und es erschwert zugleich den Zugang zu seinem immensen künstlerischen Werk, das beeindruckend kompromisslos ist und nur der eigenen überzeugung folgt. Seine Freunde und Sammler schätzen diese in angepassten Zeiten selten gewordenen Tugenden. Und es irritiert einen Markt, der seine eigenen Trends schafft.
Çoban, der seit 1969 in Deutschland lebt und sich als Künstler trotz Trendverweigerung längst durchgesetzt hat, ist ein Individualist und Moralist, der sich stets bewusst ist, dass mit jedem neuen Bild auch seine Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand steht.
Nur wer sein Handwerk so souverän beherrscht wie Ismail Çoban kann so autonom und unangefochten seine eigenen künstlerischen Wege gehen. Den Weg als expressiver und doch kontrollierter Maler, dessen Farbempfinden das Licht türkischer Landschaften ahnen lässt. Den Weg als technisch und stilistisch eigenwilliger Radierer und Holzschneider, der vor allem in der Druckgrafik seine besondere Beziehung zur Literatur auslebt, ohne je illustrativ zu werden. Und den Weg als Zeichner, den diese Ausstellung in einem bescheidenen Ausschnitt dokumentiert.
Eine Annäherung an den Zeichner Ismail Çoban führt zu einer Begegnung mit einer komplexen Persönlichkeit, die als Künstler, als Mystiker, als zeichnender Philosoph und als politischer Mensch vielschichtig und doch gradlinig, von hohem Ethos und zugleich spannend ist.
Es gibt keine stringente Chronologie im zeichnerischen Werk Ismail Çobans. Es gibt Anlässe für Betroffenheiten, die im Jetzt wie im Gestern oder Vorgestern liegen und die künstlerischen Schübe hervorbringen.
Literarische Erfahrungen gehören dazu: Die Lyrik Pablo Nerudas etwa, dem er die wunderbare Mappe "Friede für die Abenddämmerungen" (Radierungen) widmete. Oder auch Werk und Biographie Else Lasker-Schülers, jener bedeutenden deutsch-jüdischen Dichterin, deren Stimme in dunklen Tagen hierzulande nicht gehört wurde. Besonders aber Franz Kafkas beängstigende Wirklichkeitserfahrungen, seine Visionen von einer Welt, in der totale Lebens- und Existenzangst herrscht. Seine bedrückenden Metaphern für eine unmenschliche, lebensfeindliche Gesellschaft. In einer Lebenskrise Ismail Çobans entstehen Zeichnungen, in denen sich Erinnerungen an kafkaeske Situationen auf seinem an konkreten Bedrohungen reichen Wege spiegeln. Erfahrungen des Ausgeliefertseins in den Amtsstuben der Bürokratie. Die alltägliche Gegenwart von persönlicher Gefährdung, weil er sich für Menschen einsetzte, die bei ihm Zuflucht suchten. In ihren extremsten Erscheinungen sind diese Erlebnisse glücklicherweise Vergangenheit.
Immer wieder greift Ismail Çoban auf Nazim Hikmet zurück, jenen bedeutendsten türkischen Dichter der Neuzeit. Hikmets Epos über den legendären Scheich Bedreddin, geschrieben während 13jähriger politischer Haft (1936) im Gefängnis von Bursa, stimulierte einen Zyklus großformatiger Bleistiftzeichnungen, die zum Eindrucksvollsten gehören, das die Zeichenkunst dieses Jahrhunderts hervorgebracht hat. Und bei Hikmet fand er die erschütternden "Briefe an Taranta Babu", die in 29 großen farbigen Zeichnungen des Jahres 1995 Antworten fanden, die ihnen zu Lebzeiten des Schreibenden versagt blieben.
Es sind die Briefe, die der vorübergehend in Rom lebende schwarzhäutige Student Benerci aus Eritrea (äthiopien) Anfang der dreißiger Jahre an seine Frau in der Heimat schrieb. Aus Angst vor den italienischen Faschisten traute sich Benerci eines Tages nicht mehr aus dem Hause. Doch er wurde aufgespürt und ermordet. Seine Leiche wurde nie gefunden. Im Bettpfosten seines Zimmers versteckt, fand der Nachmieter, ein italienischer Schriftsteller, zufällig die nicht abgeschickten Briefe. Da die Italiener inzwischen Addis Abeba besetzt hatten, fürchtete der Autor für den Fall einer Veröffentlichung der Briefe um sein Leben. Er vertraute sie also Nazim Hikmet an, der die Briefe literarisch formte und dieser tragischen, eminent politischen Liebesgeschichte einen Platz in der Weltliteratur sicherte.
Im siebenten Brief an Taranta Babu klagte Benerci mit der Stimme Hikmets (1935):
Eine solch erstaunliche Welt
ist es hier, dass sie
mit der Fülle stirbt,
mit der Not lebt.
In den Vorstädten gehen kranke Menschen
wie hungrige Wölfe umher,
die Kornspeicher sind verschlossen,
die Kornspeicher sind voller Weizen.
Die Maschinen können
den Weg von der Erde bis zur Sonne
aus seidenen Stoffen weben.
Die Menschen sind barfuss,
die Menschen sind nackt.
Eine solch erstaunliche Welt
ist es hier, dass
während die Fische Kaffee trinken,
die Kinder keine Milch finden.
Die Menschen füttern sie mir Worten,
die Schweine mit Kartoffeln..."
Ein Textbeispiel von beklemmender Bildhaftigkeit, eine literarische und politische Botschaft, wie Ismail Çoban sie oft als Herausforderung empfunden und angenommen hat.
Täglich von neuem empfindet Çoban die Kargheit der deutschen Sprache, die seinen Alltag begleitet. Vor allem dann, wenn er zurücktaucht in seine Muttersprache mit ihrer Blumigkeit und jenem Pathos, das deutscher Sprachgebrauch längst unter die Kontrolle eines minimalisierenden Verstandes gestellt hat.
Er selbst unterstellt sich nicht der Selbstkontrolle verkopfender Abstraktion oder intellektueller Metaphorik. Er reagiert vor der Zeichenfläche mit einer eigentümlichen Mischung aus Spontanität und Disziplin, aus bisweilen leidenschaftlicher Motorik und erzählerischer Strenge.
Jede Stunde ist voller Bilder. Nur wenige haben die Chance, festgehalten zu werden, aufbewahrt, befragt.
In den Abenden, in denen die Melancholie kommt, schwimmen die Gesichter des Tages, kehren die Momente des Glücks und der Enttäuschung zurück. Der Zeichenstift macht sich selbständig, wird ein Werkzeug des Unbewussten, mischt Bildfragmente mit Erinnerungen und Gedanken. Es sind die Stunden des inneren Rückzugs, der Entgrenzung des Denkens und Fühlens. Stunden, aus denen der Künstler Kraft schöpft für den kommenden Tag. "Meditation" benennt Ismail Çoban etwa die Notierungen solcher Abende, aus denen auch die Inspiration für die Arbeit des neuen Morgens wächst. Vielleicht auch schon die Spur eines nächsten Bildes. Denn die Tage sind die Zeiten zyklischen Arbeitens, der Deklination seiner großen Themen: Liebe, Toleranz, Menschlichkeit, Freiheit und Tod, Trauer, Gewalt, Entfremdung, Doppelmoral – und die Mythen seines Lebens.
Der Weg vom Gedanken zum Bild ist kurz. Die endgültige Bildidee entsteht nicht selten erst im Arbeitsprozess. Das heißt: das Bild ist keinesfalls fertig im Kopf des Künstlers, wenn er zum Zeichenstift greift. Es gibt kein Konzept, allenfalls eine Ahnung. Der Zeichenvorgang ist mehr intuitiv als vorausschauend. Das Bild scheint sich selbst zu zeichnen. Seine unmittelbare Herkunft bleibt rätselhaft, seine Geschichte jedoch nachvollziehbar anhand der Biographie des Künstlers. Es bleibt verwurzelt in den Erfahrungen des liebenden, leidenden, hoffenden Humanisten Ismail Çoban.
Auch wenn die Bilder Ismail Çobans formal abgeschlossen scheinen, so bleiben sie doch offen für jene Bilder, die der Betrachter aus seinem Lebensfundus in die Begegnung mit einbringt.
Und so ist jedes Bild mit jedem Betrachter ein anderes, und es ist zugleich die Summe aller Bilder, die es in den Köpfen jener Menschen auslöst, die sich mit ihm konfrontieren. Die Existenzform des Bildes ist der Dialog. Und das nicht erst, nachdem der Künstler Zeichenstift und Pinsel aus der Hand gelegt hat. denn jedes Bild ist zunächst das Ergebnis seines eigenen inneren Dialoges auf der "Suche nach dem Selbst", wie es ein Zyklus benennt. Dieses "Selbst" spiegelt sich auch in den Themen seiner Zyklen (z.B. "Kapitel der Freiheit") und in seinem politischen Engagement für seine türkische Heimat und ihre Menschen.
Ismail Çoban begegnete in Deutschland einem türkischen Mädchen, das in einem Polizeigefängnis misshandelt und vergewaltigt worden war. Das Nicht-Wunsch-Kind, das daraus entstand, trug nun als lebende Anklage den Namen des Generals, der die Verantwortung für die unmenschlichen Zustände in jenem türkischen Gefängnis getragen hatte.
Das Schicksal der jungen Frau stieß eine Serie von Zeichnungen an, für die Çoban die Metapher des zerbrochenen Spiegels wählte. Jenes Spiegels, dessen Scherben nur Unkenntlichkeiten reflektieren, Bildfetzen, aus denen die Zerstörung aller Lebenszusammenhänge, die Vernichtung von Vergangenheit und Zukunft sprechen. "Ich denke dabei auch an die Frauen in den Kriegen", sagt Ismail Çoban. "An die Frauen, die selbst die Erinnerung an ihr Gesicht verloren, weil ihnen alles genommen wurde, was sie liebten und was ihnen Identität gab."
Und während der Zeichenstift Bilder schreibt, quellen aus dem Fax-Gerät Zeitungsausschnitte und Briefe: Rückmeldungen zu einem politischen Engagement des Künstlers, der sich zu einem Sprecher der demokratischen Protest-Bewegung in der Türkei macht, die gegen ein kurzsichtiges "Euro-Gold"- Projekt streitet. Der Lebensraum und die Gesundheit vieler Menschen, mehr als 400.000 Olivenbäume sowie Bodendenkmäler des klassischen Altertums stehen dabei auf dem Spiel.
Ein Künstler lebt unter den Bedingungen, die von der Politik geschaffen werden. Das ist die Regel. Doch Ismail Çoban ist davon überzeugt, dass es zum Auftrag des Künstlers gehört, diese Bedingungen mitzugestalten, so er seine Freiheit bewahren will. In seiner kämpferischen politischen Haltung einerseits und im Rückzug in die Geborgenheit seiner kleinen Familie sowie in die Stille seines Ateliers andererseits äußert sich eine durchaus fruchtbare Ambivalenz. Und eine notwendige dazu.
Die Ambivalenz menschlichen Lebens sind auch die Ambivalenzen der Kunst, ob man nun die kunstideologisch determinierte Formel von der Identität von Kunst und Leben akzeptiert oder nicht. Zweifellos ist Kunstproduzieren eine Lebensform und das Kunstprodukt – so es nicht eindimensional ist - ein Ergebnis ambivalenter Welterfahrung und philosophischer Weltbetrachtung. Ismail Çoban trägt die Philosophien des Abend- und des Morgenlandes in sich, ohne seine Herkunft zu verwischen. Er bleibt ein Künstler aus der Türkei, der in die Fremde ging, die ein Teil von ihm geworden ist. Doch die menschlichen Werte, die er vertritt, gehören zu den Grundfesten beider Kulturen, - auch wenn er mit der Fähigkeit und Bereitschaft zur Toleranz immer wieder Probleme hat, - in beiden Welten.
Die Grenzüberschreitung, die er geographisch und kulturell 1968 vollzog, blieb nicht die dominante Grenzerfahrung seines Lebens. Dies sind mehr noch die Grenzen, die das Fühlen, Denken und Handeln von Menschen bestimmen. Grenzen, die sich in den Köpfen verfestigen als Ergebnis von Erziehung, Weltanschauung und Politik. Kunst aber ist immer wieder Grenzüberschreitung, das Wagnis des Unerprobten, Unbestätigten.
In den großformatigen, manchmal monumentalen Zeichnungen von Ismail Çoban ist Grenzziehung in den letzten Jahren ein formales Prinzip auf der Grundlage philosophischer Betrachtungen und gesellschaftlicher Einsichten.
Diese Arbeiten unterscheiden sich von anderen durch kompositorische Elemente in Form von "Fenstern" und Gliederungen der Bildfläche. Klebebänder, die im letzten Teil des Arbeitsprozesses wieder entfernt werden, hinterlassen helle Balkenstrukturen, die mehr als "Zeichen" sind und mehr als einen kompositorischen Auftrag erfüllen.
"Es sind Fenster, durch die wir uns die Welt aneignen", sagt Ismail Çoban, "und es sind die Grenzen, die mitten durch uns hindurch gehen. Die Grenzen, die wir in uns selbst überwinden müssen, bevor wir die Grenzen zum Anderen überschreiten können."
Auch wenn Kunst den Anderen als Dialogpartner braucht, ist Kunstmachen doch ein einsamer Prozess. Ismail Çoban hat Erfahrung mit Einsamkeit. Er hat sich oft allein gelassen gefühlt, wenn er in schweren Tagen vergeblich auf Freundschaft setzte. Drei riesige Triptychen, die unter dem Thema "Jeder trägt sein Kreuz allein" stehen könnten, wurzeln darum vor allem in eigener leidvoller Lebenserfahrung.
Dagegen
setzt Ismail Çoban das Thema LIEBE als die wichtigste Triebkraft seines
privaten wie künstlerischen Lebens. Auch in seinen Menschenbildern gibt
es immer wieder pralle Erotik und behutsame Zärtlichkeit, Romantik und
Poesie, aber auch animalische Kraft. Die Menschenwesen, die er auf``s
Papier oder auf die Leinwand bringt, lassen Distanz nicht zu. Sie
kämpfen und sie lieben sich. Sie verschmelzen Haut an Haut und sind
verschlungen in unendlichen Umarmungen. Doch am signifikantesten die
Hände. Es sind ganze Ballette von Händen, die in den Figurationen
gestikulieren, berühren, streicheln. Hände, die sich dem Betrachter
entgegenstrecken. Seine Hände.
Dabei hat er noch immer
Schwierigkeiten mit der gestörten Körperlichkeit der Menschen, die ihn
hierzulande umgeben. Nähe zu ertragen, vielleicht sogar zu genießen,
steht offenbar nicht auf den Stundenplänen deutscher Lebensschulen.
Ismail Çoban hat sich in seiner gar nicht mehr so neuen Welt im Bergischen Land mit seiner Frau und seinen drei Söhnen ein Lebensklima geschaffen, das auch seine Bilder durchweht. Und so ist sein tausendfach gezeichnetes Bekenntnis zu Nähe, Wärme, Freundschaft und Liebe ein Spiegel seiner heutigen inneren Lebenswirklichkeit, aus der er die Kraft bezieht für das große Abenteuer KUNST.
Dieter Treeck
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